Verschnupft in Seattle

Nach 3 ½ Wochen New York ist es Zeit, die Ostküste zu verlassen und ich fliege dem Pazifik entgegen. Mein Ziel ist Seattle in Washington State und ich freue mich auf einen regenreichen Ort, der für seine üppige Natur bekannt ist. Leider bringe ich auch eine Verkühlung aus New York mit und fühle mich zu schwach um allzu viele Sights zu sehen.

An einem Tag verspricht der Wetterbericht Sonnenschein und 20°C und ich nütze doch die Gelegenheit für eine längere Tour. Meine Schritte führen mich weg von der Innenstadt, weg von Menschen, denn mein Bedürfnis nach Ruhe und Natur könnte nach der langen Zeit Großstadtlärm nicht größer sein. Ich wohne in einem Airbnb in Mount Baker, einer wohlhabenden Nachbarschaft Südöstlich von Downtown. Hier gibt es einen tollen Park am Fuße eines Hügels mit hohen, uralten Bäumen durch den sich eine einsame Straße schlängelt. An der Seite sind Gemeinschaftsgärten angelegt und je höher man kommt, desto besser wird der Blick hinunter auf den See und die dahinter liegende Landschaft. Ich spaziere weiter durch mein Viertel, es ist ein weiter Weg von 5 Kilometern bis zu meinem Ziel. Schließlich komme ich beim Seward Park an, einer Halbinsel im Lake Washington, wo einer der letzten Urwälder der Stadt zu finden ist. Um die 400 Jahre alt sind die Bäume hier und der Wald ist weitestgehend sich selbst überlassen. Wenn ein abgestorbener Baum umfällt, dann darf er liegen bleiben und wird von Moos überwuchert zu neuem Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Es gibt sogar umgestürzte Bäume, aus denen neue Stämme wachsen. Nachdem ich einigen Wanderwegen durch den Urwald gefolgt bin, komme ich an einem Kieselstrand am See an und lege mich in die Sonne. Hier habe ich das Gefühl, dass alles irgendwie gut ist.

An meinem letzten Tag in Seattle und mit verschnupfter Nase schaue ich mir die größte Sehenswürdigkeit an: den Public Market. Hier ist der Trubel zu finden, den ich sonst in Seattle nicht bemerke. Ein Kreuzfahrtschiff liegt im Hafen vor Anker und Mengen an Menschen durchströmen den Markt. Es gibt alles, von lokal produzierten Waren über Krimskrams bis hin zu einem breiten Angebot an Speis und Trank. Auch ein Fischmarkt findet sich darin und zufällig bin ich dabei, als eine Frau einen größeren Fisch kauft. Das klingt banal, ist es aber nicht: 5 Fischverkäufer stimmen ein Lied an, die Käuferin steht an der Theke, plötzlich fliegt der Fisch von einem Verkäufer zum anderen, wird durch die Luft geworfen im Rhythmus des Liedes.

Als ich weiter flaniere stoße ich auf die erste je eröffnete Starbucks-Filiale. Etwas, wofür Seattle weltberühmt ist und natürlich gibt es auch hier eine lange Schlange, fast den ganzen Häuserblock entlang. Als Abschluss nehme ich die Fähre nach Bainbridge Island. In Seattle mit der Fähre zu fahren gibt mir Grey’s Anatomy vibes und die Aussicht ist toll. Einerseits ist da das schneebedeckte Massiv des Olympic National Parks, das über das Wasser ragt und auf das wir zusteuern. Andererseits sieht die Skyline von Seattle erst vom Schiff aus richtig schön aus. In Richtung Süden kann man sogar den Mount Rainier erspähen. Majestätisch sieht er aus und erinnert mich an den Berg Ararat von der armenischen Seite. An dem Ort Bainbridge Island finde ich nicht viel Besonderes, es gibt nette Cafés und ein charmantes Buchgeschäft, abgesehen davon ist es keine hübsche Ortschaft und alles ist sehr autofreundlich gehalten. Wenn man die Insel mit dem Auto erkundet ist es sicher toll, und die Fährfahrt an sich ist es auch wert.

Mit einem harten Themenwechsel möchte ich auch das beschreiben, was mich an Seattle eher schockiert: Leider findet sich auf den Straßen von Seattle – wie zuvor schon in New York – ein Spiegel für die missglückte Sozialpolitik der USA. An meinem ersten Tag steige ich Downtown aus dem Bus aus und lande auf der 3rd Street die mitten durch das Zentrum führt. Einige Zelte stehen auf der Straße, sie sind für Menschen ohne Obdach bitter nötig, weil es so oft regnet. Um mich herum sind Menschen die sich ungewöhnlich verhalten, sie sind unzureichend bekleidet, es fehlen Schuhe, die Hose hängt bei den Kniekehlen und Frauen haben oft fast nichts an, die Menschen bücken sich nach etwas das nicht da ist, gehen mit fast geschlossenen Augen durch die Straßen und tasten sich weiter, zerschneiden Kleidungsstücke. Es ist ein tristes, trauriges Bild, ein Abbild des Drogenkonsums, der sich seit COVID-19 nochmal verstärkt hat. Ich spreche mit meinem Airbnb-Host darüber und sie erzählt mir, dass sehr viele Menschen auf der Straße landen nachdem sie sich ihre Gesundheitsversorgung nicht mehr leisten können. Es gibt zwar Notunterkünfte, aber viel zu wenige. Der Weg in die Drogenabhängigkeit ist dann nicht mehr weit – besonders Fentanyl macht der Stadt zu schaffen, eingeschmuggelt in rauen Mengen über Mexiko. Wie ich schon in vorigen Gesprächen in New York erfahren habe, erzählt mir auch mein Host in Seattle, dass man sich in den kernkapitalistischen USA darüber definiert, Geld zu verdienen und das oft genug schonungslos zum Nachteil Anderer. Was bleibt ist ein bitterer Nachgeschmack – es könnte ein schöner Ort zum Leben sein, wirkt aber eher wie eine sozialpolitische Großbaustelle.

Ich trete schließlich meine Reise Richtung Norden an, finally nach Kanada. Ich entscheide mich für den Zug, weil der an der Küste entlangfährt (nur um dann erst recht auf der falschen Seite zu sitzen). Zugfahren in den USA ist viel strukturierter als in Europa, und in meinem konkreten Fall ziemlich amüsant. Es ist meine zweite Zugreise während diesem Urlaub, die erste war von Washington zurück nach New York. Es ist nicht so wie wir es kennen, dass man auf den Bahnsteig geht und einfach einsteigt. So wie bei so vielem muss man sich in einer Reihe anstellen. Zuerst für die Passkontrolle wegen Kanada – das ist ja sinnvoll – dann aber auch für das Betreten des Bahnsteigs. Dort wird einem das Gepäck abgenommen mit dem Argument im Zug ist sonst kein Platz (ich werde bei der weiteren Fahrt bemerken, dass das ein Blödsinn ist). Auch auffallend ist, dass der Bahnhof in Seattle keine Geschäfte hat um etwas einzukaufen, keine Bäckerei, kein Zeitungsstand. Der Zug nach Vancouver fährt zwei Mal täglich eher ungünstig, einmal um 7:50 morgens und einmal 12 Stunden später.

Sobald man es in den Zug geschafft hat, bekommt man eine Reihe an Anweisungen per Durchsage. Es wird mehrfach und ausführlich beschrieben wo im Waggon das WC zu finden ist und wo der Mistkübel. Man wird darauf hingewiesen Kopfhörer zu verwenden und leise miteinander zu sprechen – „please keep that in mind, we don’t want to babysit you on this“. Angesprochen werden wir mit „you guys“ oder „alrighty folks“ und bei der nächsten Station „we’ll pick up a couple of friends“. Bei den Durchsagen für die kommenden Stationen gibt’s auch Infos im Reiseführer-Stil, zum Beispiel dass bei der Basis der Navy zu unserer Linken gleich ein paar „Distroyer“ zu sehen sein werden. Auch für das Ausfüllen unserer Customer Declaration für die kanadische Staatsgrenze erhalten wir Unterstützung. Etwa die Info zum heutigen Datum: “May the 4th be with you – a little Star Wars reference here”. Bis jetzt ist Zugfahren ziemlich amusing, wenn auch ganz anders als ich es von Europa gewohnt bin.

So bin ich nun also in Kanada, news von hier gibt es bald – stay tuned!

15. Mai 2023