Von Tbilisi an die russische Grenze

Selten habe ich mich so darauf gefreut eine Stadt kennenzulernen wie Tbilisi, die Hauptstadt Georgiens. Als Paris des Ostens beschrieben, voll der Kunst und Kultur und der kaukasischen Lebensfreude, waren meine Erwartungen diesmal recht hoch angesetzt. Auch deshalb haben wir beschlossen, in Tbilisi länger zu bleiben. Es war kein Fehler.

Die Hauptstadt Georgiens hat viele Gesichter. Sie erinnert mit ihren prunkvollen Boulevards und gepflegten Parks tatsächlich an Paris. In und um ein altes Fabriksgelände ist ein Mini-Berlin entstanden, wohin Hipster aus aller Welt pilgern. Ein paar Straßen weiter könnte man auch in Istanbul gelandet sein, mit Shisha-Bars zu allen Seiten, Kebab-Restaurants und gemütlichen Lokalen. Die kleinen Gassen der Altstadt, dem jüdischen Viertel, in denen man steile Wege hinauf in Richtung Burg spaziert, haben den Charme einer europäischen Kleinstadt. Und dann gibt es da noch die Tbiliser Architektur, die der Stadt eigen ist: ineinander verschachtelte Gebäude mit großen Fensterfronten und balkonähnlichen Veranden, in den verschiedensten Farben und dem Verfall in unterschiedlichem Grad ausgeliefert. Immer wieder sind aus unscheinbaren Nebengebäuden oder Höfen kleine Wohlfühloasen entstanden, mit begrünten Wänden und Pflanzen auf Balkonen, mit Upcycling aus Antiquitäten einer längst vergangenen Zeit. Geht man auf den Straßen von Tbilisi spazieren, so findet man alle paar Schritte einen Haus- oder Hofeingang, hinter dem sich jeweils eine kleine Welt verbirgt. Und die Wände der Stadt dienen als Leinwand, so ist man stets umgeben von der künstlerischen Ader ihrer Bewohner*innen.

Wer bis hierher gelesen hat, und meinen bisherigen Artikeln gefolgt ist, kann wohl herauslesen: hier schreibt ein Fan. Während mir in New York, der wohl meistfotografierten Stadt der Welt, gelegentlich die Inspiration ausgegangen ist – hier wurde gefühlt schon jeder Zentimeter abfotografiert – kann ich mit der Kamera in der Hand von Tbilisi kaum genug bekommen.

Auch als Ausgangspunkt für Tagesausflüge eignet sich die Stadt sehr gut. Einmal wählen wir Gori als Destination. Hier geboren und aufgewachsen, ist Stalin das berühmteste Kind Goris und wohl auch noch heute sein großer Stolz, seinen Verbrechen zum Trotz. Nahe der kleinen Altstadt thront neben dem Stalin-Park auch das Stalin-Museum, das zu seinen Ehren kurz nach seinem Tod 1953 eröffnet wurde, und heute wie damals wenig kritische Stimmen zulässt. Raum für Raum erfährt man hier über die Errungenschaften des sowjetischen Diktators, die ebenfalls ihm zu verdankenden Gräueltaten mit Millionen Toten werden nur in einem Kämmerlein unter der prachtvollen Stiege thematisiert. An diesen Ort hat man sowohl Stalins Wohnhaus seiner ersten 4 Jahre gebracht, als auch den Bahnwaggon, mit dem er, der sich vor dem Fliegen fürchtete, einst quer durch die Welt unterwegs war.

Von Gori ist es dann noch eine fünfzehnminütige Fahrt mit dem Taxi, und wir befinden uns in der unaussprechlichen Höhlenstadt Uplisziche. Gegründet im 6. Jhdt. v. Chr., war Uplisziche eine bedeutende Handelsstadt an der Seidenstraße. Noch heute ist sie enorm imposant, durch antike Tempelanlagen und tief in den Stein gearbeitete Festhallen. Die Aussicht von der Stadt über das Tal und über den Fluss ist atemberaubend und die Berglandschaft dahinter erinnert mich an Bilder, wie sie mir beim Lesen der „40 Tage des Musa Dakh“ von Franz Werfel entstanden sind. Unten im Tal, beim Eingang zur Höhlenstadt, wird ein großes Fest gegeben, Musik und die ausgelassenen Stimmen der Kinder dringen zu uns herauf. Gleichzeitig zieht eine Gewitterfront heran, abseits des Trubels trabt eine Schafherde vorbei. Wenn ich kurz die Augen schließe, könnte ich meinen ich wäre vom Terror des Stalinismus plötzlich viel weiter in die Vergangenheit gereist und mitten in der Blütezeit der kaukasischen Seidenstraße gelandet.

Auf dem Rückweg nach Tbilisi sind wir erschöpft von den Eindrücken und Zeitreisen, leider gibt es keine Ruhepause für uns: unser Taxifahrer scheint sich beweisen zu müssen. Er fährt mit einem Karacho über die Autobahn, lässt sich weder von anderen Fahrzeugen noch vom strömenden Regen sonderlich beeindrucken. Als wir in Tbilisi auf einen Stau stoßen, überholt er kurzerhand über die Gegenfahrbahn, um sich weiter vorne schamlos reinzuquetschen. Als meine Freundin anmerkt, er fahre wie eine gesengte Sau, ernten wir einen bösen Blick von einer sonst stillen Mitfahrerin. Hat uns schon wieder jemand verstanden?

Nach dem Trubel der ersten Tage in Tbilisi, nach unserem langen Tag in und um Gori, haben wir noch eine weitere längere Fahrt vor uns. Mit Airbnb gibt es nicht nur ungewöhnliche Unterkünfte, sondern auch „Entdeckungen“. Wir wählen eine Fahrt nach Kazbegi, bzw. Stepanzminda, fast an der Grenze zu Russland. Dorthin führt eine zweispurige Straße über einen Bergpass. Es ist die einzige Straßenverbindung nach Russland, und diesmal kommen wir dem großen Nachbarn so nah wie noch nie. Unterwegs dorthin bleiben wir bei der Kirche Ananuri stehen, wo wir durchaus waghalsig eine Mauer entlang auf einen Turm klettern. Für meinen Geschmack bewegen sich hier zu viele Tourist*innen auf losen Holzbrettern, mit dem Ziel den Turm ganz zu erklimmen. Wer sich eher in den kühlen Räumen der Kirche aufhalten möchte, wird bei den Wandmalereien schnell feststellen, dass die Gesichter sämtlicher Figuren exakt ident sind und dem US-amerikanischen Schauspieler Nicolas Cage auf sonderbare und fast gruslige Art ähnlich sehen.

Der nächste Halt erfolgt bei einem familienbetriebenen Restaurant, das die berühmte georgische Delikatesse Khinkali anbietet: Teigtaschen gefüllt mit Champignons oder verschiedenen Fleischoptionen. Traditionell werden Khinkali mit den Fingern gegessen. Man beißt eine Seite auf, schlürft die im Inneren entstandene Suppe aus und isst die restliche Teigtasche samt Füllung, ohne zu tropfen oder etwas auf den Teller fallen zu lassen. Wer geübt ist, braucht keinen Teller. Dazu trinken wir ein giftgrünes Kaltgetränk aus Anis, ebenfalls eine Spezialität. Unser Tourguide für den Tag macht uns auf ein weiteres Detail aufmerksam: Auf dieser einzigen Verbindung zwischen Russland und Georgien fahren viele Russ*innen auch für Tagesausflüge hierher, um in diesem bekannten Restaurant zu essen. Man hat hier daher das WLAN-Passwort entsprechend eingerichtet: Abkhaziaisgeorgia – Abchasien ist Georgien.

Mit unserem Tourguide haben wir großes Glück, er fährt sehr sicher, spricht fließend Englisch und erzählt liebend gerne Geschichten. Zum Beispiel davon, dass er in der berühmten Weinregion in Georgien aufgewachsen ist, und mit 5 Jahren seinen ersten Alkoholrausch durchlebt hat. Er erzählt von der Trinkfestigkeit seiner Familie und seines Dorfs. Und von einem feierlichen Anlass, den seine Familie an einem schönen Fluss gemeinsam begießen wollte. Sie haben den Weg dorthin nicht gefunden und sich daher entschieden, an der Seite einer stark befahrenen Schnellstraße zu halten und sich vorzustellen, sie wäre der Fluss, und das feierliche Saufgelage kurzerhand dort abzuhalten. Die schöne Moral: Hauptsache zusammen.

So dürfen wir unseren Guide, der den griechischen Namen Irakli trägt, alles Mögliche fragen, denn es brennt uns Allerhand auf der Zunge. Georgien verfügt über eine geopolitisch sehr spannende Lage. Mit Landesgrenzen zur Türkei, zu Armenien, Aserbaidschan und Russland (ein Teil grenzt auch unmittelbar an Tschetschenien) gibt es in alle Richtungen Konfliktherde. Aserbaidschan, so erzählt er uns, lässt seit der Covid-19 Pandemie keine Grenzüberquerung über Land oder Meer vom Ausland mehr zu. Die einzige Möglichkeit ins Land zu kommen, ist mit dem Flugzeug nach Baku. Ausreisen auf dem Land- oder Seeweg ist möglich, aber hinein kommt man nur noch per Flug. Das dürfte in den wirtschaftlichen Interessen der Fluggesellschaft begründet liegen.
Russland als der große Nachbar, und zeitweise der große Aggressor, hat zuletzt im Jahr 2008 für ein landesweites Trauma gesorgt. Damals wollten sich Abchasien und Südossetien von Georgien trennen. Russland hat das zum Anlass genommen, die beiden abtrünnigen Regionen mit Mensch und Waffe zu unterstützen. Dieses Vorgehen vor 15 Jahren erinnert bedenklich an die Entwicklungen in der Ukraine später in der Zeit. Gori, die Stadt die wir ein paar Tage zuvor besucht haben, wurde damals bombardiert und die Menschen mussten aus der Stadt fliehen. Als Russland Anfang 2022 in die Ukraine einmarschierte, flohen zehntausende Menschen aus Russland nach Georgien. Als einige Monate später die Generalmobilmachung verkündet wurde, folgten ihnen weitere Zehntausende, um nicht in diesen Krieg eingezogen zu werden. Innerhalb weniger Stunden war die Schlange vor der Grenze endlos lang. Die meisten haben sich in Tbilisi eine neue Existenz aufgebaut, bzw. warten dort auf das Ende des Krieges, Seite an Seite mit Geflüchteten aus der Ukraine.

Als wir weiter Richtung Norden, Richtung Russland fahren, kommen wir zunächst an einem Skigebiet vorbei, in dem ein Hotel und ein Chalet nach dem anderen aus dem Boden gestampft wird. Kurz darauf erscheint ein gewaltiges Denkmal an einem Berghang, es wurde errichtet zu Ehren der Freundschaft zwischen Russland und Georgien. In bunten Farben und vor einer atemberaubenden Bergkulisse erzählt es die Geschichte beider Länder. Wir fahren weiter die Straße hinauf, kommen an kleinen Hütten vorbei, wo saudische Touristen anreisen, um in der gewaltigen Natur Georgiens Lämmer über dem Feuer zu grillen. Halal versteht sich. 

Während ich schreibe und schreibe und alles noch der gleiche Tag ist, kommt es mir im Nachhinein sehr sonderbar vor, dass sich in wenigen Stunden so vieles ausgehen kann. Aber, das war noch längst nicht alles.

Die Straße die wir fahren, ist die Berühmteste Georgiens und sie ist an Schönheit tatsächlich nur schwer zu überbieten. Grüne Abhänge schmiegen sich an schneebedeckte Gebirgsketten, in tiefen Tälern rauschen die Flüsse. Und wir schlängeln uns weiter dem dritthöchsten Berg Georgiens entgegen. Irakli erzählt uns, dass die zweispurige Bergstraße die wir eben entlangfahren, als einzige Verbindung zwischen Russland und Georgien auf dem Landweg, großteils heillos überlastet ist. Alte sowjetische LKWs, riesige Luftverschmutzer, die dunkle Abgaswolken hinter sich herziehen, müssen sich die Bergstraße ebenso nach oben plagen wie Reisebusse für Skitourist*innen, nicht selten in einem Tempo von 15km/h. Um diesen Verkehr zu entlasten, wird derzeit mit der Unterstützung Chinas ein kilometerlanger Tunnel gebaut. Die Baustelle ist mit riesigen chinesischen Zeichen beschriftet, gleich daneben liegt mitten in den Bergen die Containerstadt, in der die Arbeiter*innen nächtigen. Mit einem Schmunzeln und gewissem Stolz in der Stimme erzählt Irakli, dass sich die chinesische Firma verpflichtet hat, einen Prozentsatz an Arbeitskräften aus Georgien zu beziehen, diese sind somit kaum kündbar. Das wissen ebendiese georgischen Arbeitskräfte und nehmen es mit der Arbeitsmoral daher eher gelassen.

Der Grenze zu Russland immer näherkommend, taucht plötzlich in unserer Fahrtrichtung eine endlos lange Schlange an LKWs auf. Über mehrere Kilometer hinweg parken hier die Kolosse und warten darauf, bei der Grenzkontrolle selbst an der Reihe zu sein. Seitdem Sanktionen über Russland verhängt wurden, sei die Schlange immer länger geworden, meint Iralki. Als wir auch an Lebendtiertransportern vorbeikommen und erahnen, wie lange diese hier, bei jedem Wetter, zum Warten verurteilt sind, läuft uns ein kalter Schauer über den Rücken.

Mit all diesen Eindrücken eines langen Tages, erreichen wir schließlich Stepanzminda, das in einem tiefen Tal im Schatten von Kazbegi, dem dritthöchsten Berg Georgiens ruht. Hier steht auf einem Hügel dem Berg zugewandt die Dreifaltigkeitskirche Gergetier in sagenhafter Kulisse. Der Berg ist wolkenverhangen, trotzdem zeichnet sich die Naturgewalt ab, die von ihm ausgeht. Der Berg Kazbegi, knapp über 5.000 Meter hoch, ist Schauplatz der Strafe des Prometheus, der das Feuer von den Göttern nahm um es den Menschen zu geben. Es ist ein heiliger Berg, und wenn man als kleiner Mensch vor ihm steht, ahnt man weshalb.

Als dieser lange Tag zuende geht, sind wir wieder zurück in Tbilisi und sehen die Sonne hinter unserer Terrasse untergehen. Am Horizont jagen einander die Blitze, die Gewitter über Georgien gehen weiter.

31. Juli 2023